Ich und das Gelbe vom Ei
Klappentext:
Er sucht das Rampenlicht, um sich darin zu verstecken.
Hagen liebt sein Leben in Berlin – voller Kunst, Leidenschaft und dem Spiel mit Versuchung und Verführung.
Ausgerechnet sein Dozent macht ihm romantische Avancen, obwohl Hagen es eigentlich auf dessen Freund, den attraktiven Tänzer Frederik, abgesehen hat.
Er lässt sich auf den einen ein, um den anderen zu bekommen. Doch das Spiel gerät außer Kontrolle – und plötzlich ist er derjenige, dessen Welt zusammenbricht.
Als seine sorgsam errichtete Fassade bröckelt, bekommt er Hilfe aus einer Richtung, mit der er nicht gerechnet hat.
Und zum ersten Mal muss er sich fragen, wen oder was er wirklich will – und ob er endlich bereit ist, dafür echte Nähe zuzulassen.
Ich und das Gelbe vom Ei ist der 2. Band der queeren Romanreihe Über’m Regenbogen. Jeder Band ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig gelesen werden.
Ebook: EUR 5,99
Print: EUR 18,99
ASIN: B0G3P4SC48
ISBN: 3565110929
Umfang: 510 Seiten
Publisher: A.C. Lelis
Erscheinungsdatum: 1. Auflage, 28.11.2025
Genre: MM Romance, Alltag, NewAdult

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Auszug:
Er riss mich aus einer tiefen Depression. Allein die Art, wie er sich bewegte. Dieser Körper. Diese Spannung … Ich sah ihn – und wusste sofort, dass ich ihn zeichnen musste.
Halt. Stopp. Zurück. Noch einmal von vorn. So kann man doch keine Geschichte anfangen.
Erst einmal sollte ich mich vorstellen:
Mein Name ist Hagen Juni. Ich bin einen Meter vierundachtzig groß, sportlich-schlank und habe graublaue Augen sowie schwarze Haare – na gut, eigentlich sind sie rotblond, aber das ist inakzeptabel. Also: zurzeit schwarz. Meines Zeichens bin ich Künstler und lebe seit zwei Jahren in Berlin: arm, aber sexy. Damit meine ich nicht mich, sondern die Stadt. Obwohl … es trifft wohl auf uns beide zu.
Berlin ist einfach die Kulturmetropole Europas, auch wenn es noch nicht alle begriffen haben. Erstens: Die Mieten sind hier nicht so teuer, also im Vergleich zu London oder Paris. Zweitens: Es gibt jede erdenkliche Form von Kultur: von eingestaubten Museen bis hin zu modernen Designerpalästen. Drittens: Ich bin nicht der einzige Künstler hier … Es gibt durchaus bekanntere und bedeutendere als mich.
Okay, sehr viel bedeutendere. Um genau zu sein: Ich studiere noch. Gut, ich bin ein ziemlicher Aufschneider. Ja, und ich mag es theatralisch. Da Sie mich nun schon recht gut einschätzen können, können wir ja mit der Geschichte fortfahren.
Zurück auf die Straßen Berlins: Ich bin also gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Seminar, als ich ihm zum ersten Mal begegne – purer Zufall. Eigentlich fällt er mir nur auf, weil ich ihn beinahe über den Haufen gefahren hätte. Sie kennen das: Hat man ein bestimmtes Ziel fixiert, steuert man gedankenlos und völlig automatisch darauf zu. In diesem Fall war es der kernige Arsch meines Opfers – das Ziel, meine ich.
Was einen beinahe wieder in die alten Depressionen zurückwirft: Man wird nicht einmal wahrgenommen. Da bremst man mit quietschenden Reifen, rettet ihm das Leben – und er dreht sich nicht einmal um.
Großstadt eben! Fußgänger sind hier Kummer gewohnt: sie leben ständig mit der Gefahr, im nächsten Moment überfahren zu werden.
Seufzend steige ich wieder auf und fahre an ihm vorbei. Fünf Meter weiter drehe ich mich noch einmal um, riskiere dabei, gegen einen Laternenpfahl zu krachen – nur um auch seine Vorderansicht zu begutachten.
Nun. Es lohnt sich. Sein Gesicht ist mindestens ebenso ansprechend wie sein Hintern.
Doch er beachtet mich immer noch nicht. Musikstöpsel in den Ohren, gedankenverlorener Blick.
»Pass doch auf, Bengel!«
Widerwillig reiße ich meine Aufmerksamkeit von ihm los, gerade noch rechtzeitig, um einem alten Opa im batteriebetriebenen Rollstuhl auszuweichen.
Fuck!
Nun ja, was soll man machen? Die Chancen, dass ich ihn hier anspreche und mit in meine Wohnung nehmen darf, um einen heißen, ungezügelten Nachmittag mit ihm zu verbringen, sind eher gering. Wahrscheinlicher ist, dass ich ihn nie wiedersehe.
Pech. So ist das Leben.
Also weiter zum Seminar. Aktzeichnen. Klingt aufregender als es ist. Meistens ist es eher – nun ja – für meine ästhetisch verwöhnten Augen eine echte Herausforderung. Denn die Modelle sind nicht unbedingt visuell ansprechend.
In einer der letzten Sitzungen hatten wir zum Beispiel eine echte Matrone. In gewisser Weise interessant, im Barock wäre sie sicher ein begehrtes Modell gewesen. Aber heutzutage …? Mal ehrlich: Wer will die heutzutage schon nackt sehen, wenn er sich im Internet kostenlos heiße Schnecken nach eigenem Gusto anschauen kann? Ich zumindest nicht.
Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Ich bin schwul. Und ich habe sogar noch weniger Interesse daran, nackte Frauen zu sehen, als andere Männer – egal ob dick oder dünn. Dünn war dann die nächste. Dürr. Ein Klappergestell. So ein richtig mageres Ding. Anatomisch durchaus interessant – ich hatte das Gefühl, ein Skelett zu zeichnen.
Dann kam tatsächlich einmal ein Herr. Aber der …
Darüber möchte ich wirklich nicht reden.
Ich gehe also mit nicht allzu hohen Erwartungen ins Atelier. Übrigens komme ich zu spät. Ich komme immer zu spät. Eine ganz schlimme Angewohnheit, ich weiß. Aber meine Kommilitonen und Professoren haben sich längst daran gewöhnt. Sie erwarten nichts anderes von mir. Und nichts läge mir ferner, als die an mich gestellten Erwartungen zu enttäuschen.
Umso überraschter bin ich, dass ich heute darauf angesprochen werde:
»Herr Juni, völlig entgegen Ihrer sonstigen Gewohnheit sind Sie noch vor dem Modell eingetroffen. Das ist einen Applaus wert.«
Ich verbeuge mich tief vor meinen Bewunderern. Als das Klatschen und Gekicher abebbt, strecke ich meinem Dozenten die Zunge raus.
Ganz so gerne stehe ich nun doch nicht im Mittelpunkt. Deshalb lehne ich auch das freundliche Angebot, als Ersatzmodell einzuspringen, entschieden ab. Das fehlte mir gerade noch.
»Schade«, sagt der liebe Herr Schnebel mit aufrichtigem Bedauern. »So jemanden wie Sie hatte ich nämlich für heute ausgesucht: einen gesunden, jungen Mann. Hoffen wir, dass er nur Ihre schlechte Angewohnheit teilt und ebenfalls unpünktlich ist – und nicht, dass er es mit der Angst zu tun bekommen hat.«
Ein gesunder, junger Mann? Das wäre ja zu schön, um wahr zu sein. Mit einem leisen Hoffnungsschimmer setze ich mich auf meinen Platz in der letzten Reihe. Neben mir sitzt Miriam. Ich mag sie sehr. Sie hat einen lustigen Charakter, wenn auch stellenweise recht düster.
»Wie spät ist es eigentlich?«, frage ich sie.
Da sie ebenso wie ich keine Uhr besitzt und ihr Handy nach eigener Aussage den Geist aufgegeben hat, gibt sie die Frage an Thorsten weiter. Den mag ich nicht so. Eine Hete. Ein Weiberheld. Jemand, der sich gerne über mich, die Schwuchtel, lustig macht. Mein Feindbild.
Auch wenn er jetzt nett tut und verrät, dass wir erst zehn Minuten über der Zeit sind.
»Dann kann er ja noch kommen«, meine ich. »Fünfzehn Minuten sind schließlich noch höflich.«
»Kannst es wohl gar nicht abwarten, einen nackten Kerl zu sehen«, spottet Thorsten.
Ich mustere ihn kühl. »Keine Sorge. Wenn ich unbedingt einen nackten Mann sehen wollte, bräuchte ich dafür sicher nicht eure Gesellschaft.«
Thorsten schüttelt sich angewidert, wendet sich aber gnädigerweise jemand anderem zu.
Miriam lacht leise vor sich hin und stupst mich schließlich an. »So ein Schwulenporno in live hätte doch was. Ich hätte eigentlich nichts dagegen …«
»Holla die Waldfee«, murmele ich, als ich in dem gerade Eintretenden den heißen Fußgänger von vorhin wiedererkenne. »Ich auch nicht.«
»Hm, nicht schlecht!«, stimmt sie begeistert zu und zückt bereits ihren Stift.
Daran ist jetzt wirklich nicht zu denken. Meine gesamte Aufmerksamkeit richtet sich auf ihn, für meine Zeichenutensilien habe ich keine Kapazitäten übrig. Wenn sein Körper hält, was sein Gang und die engen Klamotten versprechen, will ich keinen Augenblick verpassen.
Er ist total mein Typ: schlank, groß – aber nicht zu groß, etwa so wie ich –, mit stolzen Gesichtszügen. Sehr markant. Sein Kinn ist so maskulin, ich werde ganz wuschig nur vom Anschauen.
Den Mädchen im Raum scheint es ähnlich zu gehen. Außer Miriam, die Irre. Sie hat schon ihren Skizzenblock gezückt.
Ich richte meinen Blick wieder nach vorn. Er hat braune Locken. Sie passen zu seinen dunklen Augen, stehen aber im Kontrast zu seiner recht blassen Haut. Der Haut, von der wir gleich noch mehr sehen werden.
Unwillkürlich lecke ich mir über die Lippen. Mir wird es erst bewusst, als ich Thorsten neben mir schnaufen höre. Aber ich ignoriere ihn einfach. Mir doch egal, was er von mir hält.
Herr Schnebel begrüßt den Ankömmling und geht mit ihm die übliche Litanei durch, wie mit jedem Modell: Wenn er durstig ist, kann er gerne etwas trinken. Wenn ihm kalt ist, gibt es eine kleine Heizung. Und er kann es sich so gemütlich machen, wie er will. Die Posen sollten nur nicht ständig wechseln.
Schließlich folgt die Bitte, sich auszuziehen. Dafür steht ein altmodischer Wandschirm bereit, sowie der obligatorische Bademantel für den großen Moment der Enthüllung. Doch unser Modell würdigt Letzteren keines Blickes. Er nutzt lediglich den Stuhl hinter der spanischen Wand als Ablage und kehrt dann nackt zurück, ohne Mantel.
Mir stockt der Atem. Ich habe noch nie einen derart perfekten Körper gesehen. Jeder einzelne Muskel ist erkennbar und was zwischen seinen Beinen hängt, ist ebenfalls nicht übel. Lässig und doch mit einer unvergleichlichen Grazie lässt er sich auf dem Podest nieder. Es scheint ihn nicht im Geringsten zu stören, dass ihn ein paar Dutzend Augenpaare unverhohlen mustern. Entspannt lehnt er sich zurück, und schon ertönen die ersten hastigen Striche auf dem Papier.
Ich starre ihn immer noch an. Eigentlich hätte ich nichts dagegen, ihn die vollen zwei Stunden lang einfach nur anzusehen. Doch dann stößt mich Miriam von der Seite an und schüttelt den Kopf.
»Willst du nicht wenigstens ein Andenken zeichnen?«
Stimmt auch wieder. Ich möchte ihn ja zeichnen, aber bei so einem Anblick kann man seine Berufung schon mal vergessen, verstehen Sie?
Dennoch hole ich jetzt meinen Block hervor und lege ihn auf meinen Schoß. Ich mag keine Staffelei benutzen. Einige Augenblicke lang schwelge ich noch in seinem Anblick, ehe ich den Kohlestift ansetze. Es macht Spaß. Die Kohle fliegt wie von selbst über das raue Papier. Eigentlich müsste ich gar nicht mehr aufblicken, sein Körper hat sich längst tief in mein Gedächtnis eingebrannt.
Dennoch tue ich es natürlich. Nachdem ich mein Andenken vollendet und noch drei weitere flüchtige Studien bestimmter Körperpartien angefertigt habe, verfalle ich wieder ins Starren.
Plötzlich wechselt er seine Position und sieht in meine Richtung. Unsere Blicke begegnen sich. Ich weiche nicht aus. Schmunzelnd verenge ich die Augen und warte auf seine Reaktion. Auch er scheint keine Probleme mit Blickkontakt zu haben. Eine Weile betrachtet er mich abschätzend, ehe er sich langsam wieder abwendet.
Was soll man davon halten? Er hätte wenigstens lächeln können, um mir zu zeigen, dass auch er Interesse hat – oder mich eben nicht so lange ansehen, um deutlich zu machen, dass er keines hat. Aber dieser lange Blick ohne jegliche Regung? Wunderbar. Jetzt bin ich genauso schlau wie vorher!
»Magst du was trinken?«, erkundige ich mich leise bei Miriam. »Ich hol mir einen Kaffee.«
»Gern, bring mir einen mit«, bittet sie, ohne aufzusehen.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie mich begleitet. Na gut, dann eben nicht. Betteln werde ich kaum.
Immerhin wird mein Kopf klarer, als ich das Studio verlasse und mein Blick nicht mehr an ihm klebt wie eine Fliege an Sch… Tja. Ein unschöner Vergleich, ich weiß. Aber er verdeutlicht immerhin meine aufgewühlte Stimmung. Ich weiß nämlich wirklich nicht, was diese verdammte Scheiße soll. Ist er schwul oder nicht?
Während die dunkelbraune Flüssigkeit in die Becher rinnt, komme ich zu dem Schluss, dass es wohl das Einfachste wäre, ihn schlicht zu fragen, ob er mit mir ausgehen will. Vielleicht kann ich ihn auch dazu überreden, sich privat von mir porträtieren zu lassen.
»Keine Lust mehr zum Zeichnen, Herr Juni?«, erkundigt sich plötzlich die Stimme meines Dozenten, als ich mit den Bechern den Gang entlang zurück zum Atelier eile.
Ich lächle gelassen. »Aber nein, Sie können ruhig öfter solche Modelle auftreiben. Ich wollte nur etwas zu trinken holen.«
Zum Beweis hebe ich die Becher – und verschütte dabei prompt etwas von dem heißen Zeug auf meine rechte Hand. Ich zucke zusammen, erschrecke dabei noch mehr und gieße mir den nächsten Schwall Kaffee über die Finger.
»Fuck!«
Hilfsbereit nimmt Herr Schnebel mir die Becher ab, bevor ich mich noch weiter verbrühe. Wehleidig schüttele ich den Kleckerkram von mir ab.
»Am besten gehen Sie, sich die Hände mit kaltem Wasser abspülen«, schlägt er mitfühlend vor. »Ich warte hier so lange auf Sie.«
»Danke«, murmele ich – peinlich berührt von meiner Unachtsamkeit – und trabe davon. Als ich zurückkomme, wartet er tatsächlich noch ganz geduldig. Schnell nehme ich ihm die Becher wieder ab.
»Geht’s?«, erkundigt er sich sanft.
Ich nicke tapfer. »War nicht schlimm.«
»Sie sollten trotzdem auf Ihre Hände achtgeben«, rät er mir mit einem gutmütigen Lächeln. »Künstler sind nun einmal auf sie angewiesen. Können Sie weiterzeichnen?«
»Klar.« Ich erwidere sein Lächeln galant und marschiere eilig ins Studio zurück. Irgendetwas an diesem Gespräch kommt mir merkwürdig vor. Liegt es an mir, oder ist der Typ zu all seinen Studierenden so liebenswürdig? Jetzt hält er mir auch noch die Tür auf. Schnell schlüpfe ich an ihm vorbei, setze mich zu Miriam und schiebe ihr den einen Kaffeebecher zu.
»Wo ist der Rest, und warum ist er lauwarm?«, wundert sie sich.
»Ich hab mir den Rest über die Hand gekippt und wollte nicht, dass du dich genauso verbrennst«, knurre ich. »Also bin ich noch eine Weile mit den Dingern rumgerannt.«
»Blödmann!«, gibt Miriam zurück und betrachtet dann besorgt meine Hand. »Geht’s?«
»Ja, ja … schon okay …«, brumme ich, doch meine Aufmerksamkeit wird erneut von dem Modell gefesselt. Unsere Blicke begegnen sich abermals – und bleiben aneinander haften. Seiner ist genauso nichtssagend wie zuvor. Ich versuche es erneut mit einem Lächeln, doch da wendet er sich schon wieder ab. Frustrierend.
»Abgeblitzt«, kommentiert Miriam spöttisch.
Damit weckt sie meinen Ehrgeiz jedoch erst recht. Ich grolle sie leise an und mache mich an eine letzte Skizze. Sie gelingt mir genauso leicht wie die vorherigen, aber dieser Körper ist ja auch einfach wunderbar zu zeichnen.
»Sehr schön«, lobt mich plötzlich Herr Schnebel, und ich spüre den leichten Druck seiner Hand auf meiner Schulter. Moment mal … Ich drehe mich zu ihm um. Tatsächlich, er lächelt wohlwollend auf mich herab und tätschelt meine Schulter. Das habe ich ihn bisher bei keinem anderen Studierenden tun sehen.
»Danke«, bringe ich verwundert hervor und richte meinen Blick erneut auf den Schönling. Wumms. Wieder begegnen sich unsere Blicke. Er hat genau gesehen, was geschehen ist. Diesmal kann ich seinen Ausdruck deuten: Er hält mich für ein Flittchen, das mit dem Dozenten flirtet.
Fuck! Vielleicht übertreibe ich mal wieder? Aber mal ehrlich: Was würde ich von jemandem halten, der für eine Viertelstunde verschwindet und dann zusammen mit dem Dozenten auftaucht, der unmittelbar nach ihm das Atelier verlassen hat? Und dann noch dieses intime Tätscheln … Ich leide wirklich nicht unter Berührungsängsten, aber Sonderstreicheleinheiten brauche ich auch nicht.
Na ja, von dem Kerl da vorn würde ich sie mir gefallen lassen.
Aber von meinem mindestens fünfzehn Jahre älteren Kunstdozenten? Hm, okay, er sieht eigentlich nicht schlecht aus, und unter anderen Umständen wäre ich vielleicht sogar auf einen Flirt mit ihm eingegangen. Aber nicht jetzt, nicht hier und ganz sicher nicht in Anwesenheit meines Traummanns!
Die zwei Stunden verfliegen wie im Nu. Plötzlich sind wir fertig. Mr. Perfekt da vorn zieht sich an, die Studierenden räumen ihr Zeug zusammen. Ich habe es besonders eilig, denn ich will ihn draußen vor dem Gebäude abfangen. Ich weiß schließlich genau, wo er raus muss.
»Herr Juni?« Schon wieder der Dozent. »Ich würde mich gerne einmal mit Ihnen unterhalten.«
Ich höre nur halb hin, während ich den Blick nicht vom Wandschirm löse. »Ähm, wann?«
»Jetzt?«, schlägt Herr Schnebel vor.
Ich unterdrücke ein Seufzen und gebe mich charmant: »Ich müsste gleich mal wohin. Ist es dringend oder haben Sie einen Ausweichtermin parat?«
»Kommen Sie zur nächsten Sprechstunde in mein Büro.«
»Und die ist wann?«
»In einer Stunde.« Grinst er? Tatsächlich, mein Dozent grinst mich herausfordernd an.
»Fein, bis dann«, erwidere ich.
Und weg bin ich.
Was will der nur von mir? Hat ihn das Zunge-Rausstrecken von heute Morgen angemacht? Egal. Ich schiebe den Gedanken beiseite und mache mich auf den Weg nach draußen. Vor dem Gebäude stecke ich mir erst mal eine Zigarette an. Die kann ich jetzt gebrauchen. Hey, aber ich bin nicht abhängig. Nur so gelegentlich. Jetzt ist einfach so ein Zeitpunkt.
Möglichst lässig lehne ich mich an die Hauswand und warte auf mein Schicksal.
Wow – und da kommt er auch schon. Wieder schwebt er mehr, als dass er geht. Hat er das gelernt?
»Hey!« Ich löse mich aus meiner Position und folge ihm.
»Hey!« Es ist das erste Mal, dass ich seine Stimme höre, wird mir bewusst. Sie klingt toll – irgendwie ein wenig rau, erotisch. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie er klingt, wenn er einen Orgasmus hat.
»Also, war das dein erstes Mal?« Ich versuche es mit Smalltalk. Er hält nicht einmal an, um zu antworten, sondern geht mit forschen Schritten weiter.
»Ähm«, meint er wenig eloquent. Ich wittere eine Schwäche. Doch weit gefehlt – es folgt eine eindeutige Absage. »Ich hab keine Zeit zum Quatschen, okay? Wieso gibst du mir nicht einfach deine Nummer, und ich ruf dich an?«
Klar. Damit ich ewig auf deinen Anruf warte und du es doch nicht tust.
Ich schüttle den Kopf und wühle in meiner Tasche. Ich habe immer einen Kugelschreiber dabei. Entschlossen greife ich nach seinem Arm und bringe ihn so zum Stehen.
»Wie wäre es, wenn du mir deine gibst und ich dich anrufe? Ein Name wäre auch nicht schlecht …«
Und damit reiche ich ihm den Stift und meine Hand zum Draufschreiben. Irritiert betrachtet er die bemalte Fläche. Die Schriftzüge sind halb verwischt, vom Kaffee abgewaschen, doch noch einigermaßen lesbar.
Eine kleine Macke von mir: Ich neige dazu, weniger wichtige Dinge wie Verabredungen, Einkäufe, Geburtstage und Arztbesuche grundsätzlich zu vergessen. Darum schreibe ich sie mir auf die Hand. Die ist immerhin angewachsen.
»Wohin?«, erkundigt er sich, und sein Mundwinkel zuckt leicht angeekelt.
»Keine Angst, ich wasche sie mir regelmäßig«, spotte ich ungerührt. »Ist egal – irgendwohin, wo Platz ist.«
»Hm«, macht er nur – und tut es dann tatsächlich. Sebastian, 030–XXXXXXX – eine Festnetznummer.
»Danke!« Ich strahle ihn an. »Dann halte ich dich auch nicht länger auf.«
»Danke«, sagt auch er und macht sich auf den Weg, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen.
Das war ja wirklich einfach. Selbstzufrieden mache ich kehrt und suche Miriam, um ihr die tolle Nachricht zu erzählen.
»Was, wenn es nicht seine richtige Nummer ist?«, gibt sie sofort kritisch zu bedenken.
»Hexe!«
»Hey«, empört sie sich. »Ich will dich ja nicht von deiner Wolke sieben schubsen, aber es wäre möglich, oder? Ich meine, so fasziniert schien er nicht von dir zu sein.«
»Wir hatten drei lange, sehr, sehr, sehr lange Blickkontakte!«
»Vielleicht wegen des Popels in deiner Nase.«
Erschrocken fahre ich mir mit der Hand an besagtes Organ. Doch da beginnt sie schon schelmisch zu kichern.
Ich mache ein möglichst böses Gesicht und schubse sie. »Blöde Kuh!«
»Hexe, blöde Kuh … Mensch, sind wir heute wieder herzig zueinander«, spottet sie lachend und nimmt meinen Arm. »Komm schon, ich schulde dir noch einen halben Kaffee.«
»Wieso nur einen halben?«
»Mehr ist ja nicht angekommen.«
»Ich will lieber einen Tee«, schmolle ich.
»Oh fein, alles, was du willst, mein Schatz.«
»Dann gib mir dein Handy. Ich ruf gleich bei der Nummer an.«
»Der Akku ist immer noch leer«, erinnert sie mich.
»Warum hast du ein Handy, wenn du es nie auflädst?«, tadle ich sie bewusst zickig.
Sie zieht mich rügend am Ohr. »Schaff dir endlich selbst eins an und hör auf zu flennen. Du kannst ja Thorsten fragen.«
»Niemals!«
»Dann ruf von Schnäbelchen aus an.«
»Oh ja, klar …«, spotte ich ironisch.
»Was will der denn eigentlich von dir?«
Ich grinse sie extra dreckig an. »Das, was alle von mir wollen, nehme ich an.«
»Einmal auf deinem Fahrrad fahren?«, neckt sie mich. »Ich leih dir zwanzig Cent, dann nehmen wir das öffentliche Telefon in der Aula.«
»Wie gnädig von dir, aber das kann ich gerade noch selbst aufbringen«, empöre ich mich.
Sie rollt mit den Augen und schleift mich mit sich. »Warum machst du dann so einen Aufstand? Komm schon … Was machst du eigentlich, wenn seine Freundin rangeht?«
Ich belächle ihre dumme Frage. »Engelchen, er ist definitiv schwul!«
»Woher weißt du das?«
»Sonst hätte er mir keine Nummer auf die Hand geschrieben, sondern mir eine aufs Maul gehauen.«
»Okay, und was ist mit seinem Freund?«
»Dann haut mir eben sein Freund eine aufs Maul.«
»Na, gucken wir erst mal, ob es überhaupt seine Nummer ist.«
»Warum willst du mir das kaputt machen, bevor es überhaupt angefangen hat?«
Der Hundeblick, den ich als Antwort erhalte, sagt mehr als genug. Sie hat es nicht so gemeint – es ist einfach ihre Art, und sie denkt sich nicht viel dabei. Okay.
Mit kribbeligem Gefühl in der Magengegend beginne ich, die Nummer einzutippen. Es klingelt – so weit, so gut.
Doch dann meldet sich eine heisere Frauenstimme: »Biedermeier?«
»Bei Ihnen wohnt nicht zufälligerweise ein Sebastian?«, erkundige ich mich stirnrunzelnd.
»Nein.« Und es macht klick.
»Arschloch«, kommentiere ich das Ergebnis.
»Der Freund?«
»Wenn der Freund eine alte Frau ist – ja.«
»So ein Idiot«, stimmt sie mir nun immerhin zu.
Ich seufze und ziehe eine resignierte Miene. »Und jetzt?«
»Na ja, offensichtlich hat er kein Interesse an einer näheren Bekanntschaft«, plädiert Miriam für das Unfassbare.
Ich mustere sie eingeschnappt. »Das will ich nicht hören! Woher bekomme ich jetzt seine richtige Nummer?«
»Und seinen richtigen Namen.«
»Meinst du, er hat sich den auch ausgedacht?«
»Möglich«, meint sie und legt ihre niedliche Stirn in Falten. »Wieso fragst du nicht Schnäbelchen? Er hat ihn schließlich engagiert. Vielleicht hat er auch seine Nummer!«
»Ich wollte schon nicht von ihm aus anrufen – und jetzt soll ich ihn über Mister Sexy ausquetschen?«, hinterfrage ich. Doch eigentlich ist die Idee gar nicht so schlecht. Ich werde es ja wohl noch schaffen, Schnäbelchen unauffällig auszuhorchen.
Grinsend nehme ich Miriam in die Arme. »Du hast immer so gute Einfälle, Engelchen!«
»Yeah, wenn du mich nicht loslässt, habe ich noch einen, wie ich dich ganz schnell von mir loseise!«, knurrt sie plötzlich bedrohlich.
Oh ja, da war ja was. Miriam hasst Umarmungen … Sogar von vollkommen ungefährlichen Männern.
Ich lasse sie schleunigst los. »Du solltest üben, das wenigstens zehn Sekunden auszuhalten, ohne gewalttätig zu werden.«
»Warum? Ich bin glücklich«, behauptet sie. »Wenn du noch Tee möchtest, bevor du zu Schnäbelchen gehst, sollten wir uns beeilen.«
»Fein, fein …«, stimme ich zu – und bin schon wieder bester Laune.
Es wäre doch auch zu einfach gewesen, wenn er sich so gar nicht hätte jagen lassen. Aber genau das werde ich tun. Und dabei sehr viel Spaß haben. Ich muss nur meine Augen schließen, und schon habe ich seinen perfekten Körper vor mir.
Aber alles der Reihe nach. Erst muss ich Herrn Schnebel rumkriegen, damit er mir die Nummer gibt. Ich beginne, mir einen Schlachtplan auszudenken. Am besten gehe ich auf all seine Flirtversuche ein – und wenn sie noch so peinlich sind.
Eigentlich ist das ja unter meinem Niveau … Okay, Schnäbelchen ist schon irgendwie süß. Ich sollte mich geschmeichelt fühlen. Für fünf Jahre ist er sicher noch haltbar, bevor sein Verfallsdatum endgültig abläuft und er in eine Altersgruppe hinter mein Beuteschema fällt.
Nein, ich bin nicht fies! So ist das Leben …
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